Kennen Sie den Wunsch, sich im Vorfeld einer Äußerung abzusichern und evtl. aufkommende Wogen des Unverständnisses abzumildern? Sich in einem schwierigen Umfeld, das unterschiedlichste Meinungen hervorbringen könnte, abzusichern und Menschen nicht das Gefühl zu geben, man wäre der große Lehrmeister oder würde diese eine allgemeingültige Wahrheit verbreiten? Der folgende Text ist so ein Fall. Von daher: Sehen Sie es mir nach, wenn meine Erlebnisse der letzten Tage, meine daraus gewonnenen Erkenntnisse oder Auffassungen nicht den Ihren entsprechen. Es ist die Sicht eines mehr oder weniger außenstehenden Laien. Meine Sicht. Betrachten Sie diesen Text daher vielmehr als Diskussionsgrundlage und als Möglichkeit gemeinsam das einzuordnen, was aktuell in der Welt und hier speziell im Bereich der Mikroelektronik und Hochtechnologie passiert.
Die vergangenen Messetage auf der SEMICON Europa und der electronica waren intensiv und haben bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Bereits die Eröffnung der beiden Leitmessen, die Auftritte hochrangiger Vertreter:innen der Halbleiterbranche, von Abgesandten der Europäischen Union und der US-Administration, von Forschenden, Verbänden und Analysten sowie die Messeauftritte chinesischer Unternehmen waren für mich aufwühlend. Es ist eine ambivalente Situation, die sich derzeit vor unser aller Augen abspielt. Einerseits werden wir von positiven Nachrichten mitgerissen. Hier geht es um das Branchenwachstum der Halbleiterindustrie auf eine Billionen Dollar bis 2030. Um Investitions- und Fördererfolge, wie z.B. die Ansiedlung von ESMC in Dresden oder Onsemi in Tschechien. Um neue technologische Errungenschaften, u.a. im Bereich der Künstlichen Intelligenz. Und nicht zuletzt um den immer wieder vernehmbaren Ruf nach engerer internationaler Zusammenarbeit und Abstimmung, was zumindest bei mir ein angenehmes Gemeinschaftsgefühl erzeugt. Andererseits geht es dann aber wieder um die aktuellen internationalen Konflikte von Taiwan bis Ukraine. Um tiefe globale Gräben zwischen USA, Europa und Asien. Um vergebene Chancen, Rückschritte und zunehmende Abschottung einzelner Nationen, wie in Kürze im Fall der USA zu erwarten ist.
Gegen statt miteinander – immer mehr Halbleiternationen schotten sich ab
Die Welt befindet sich aktuell in einer schwierigen Phase, um es diplomatisch auszudrücken. Und die Mikroelektronikbranche sitzt gefühlt mittendrin. So verkündet Taiwan zuletzt, seine 2 nm-Technologie nicht außerhalb Taiwans produzieren zu lassen. Die Technologie soll vielmehr als Schutzschild gegen China genutzt werden, um Taiwans Souveränität zu erhalten. Südkorea lässt seinerseits in diesen Tagen verlauten, den eigenen Milliardenschweren Chips Act nutzen zu wollen, um sich gegen eine USA unter der Führung Donald Trumps zu wappnen. Die koreanischen Befürchtungen sind groß, eine Abschottung der USA gegenüber China könnte zu einem internationalen Preiskampf im Halbleitersektor führen, der koreanische Mikroelektronik-Hersteller in der Folge abzuhängen droht. Nur zwei Beispiele, die zeigen, wie stark Politik sich inzwischen in einzelne Industrien einmischt, ohne sie richtig zu verstehen. Dieser Eindruck verstärkte sich in den vergangenen Tagen in einem Messeumfeld, das bislang eher unpolitisch und rein innovationsgetrieben daherkam.
Eine ganze Industrie wird derzeit und eben auch im Rahmen von SEMICON Europa und electronica zum Spielball der internationalen Politik, von einzelnen Systemen und Nationen. Statt gemeinsam das Beste für die Welt zu erreichen, geht es zunehmend darum, andere zu hemmen, zu hindern oder ganz allgemein hinter sich zu halten. Ein Umstand, der so gar nicht zu der Mikroelektronik passt, die ich seit über zehn Jahre als interessierter Beobachter verfolge und die mich seit dieser Zeit so fasziniert. Einer Branche, die global eng vernetzt bzw. eng verwoben ist und dies auch immer wieder betont bzw. feiert. In der weiterhin eine Vielzahl an Nationen und Menschen unterschiedlichster Nationalitäten Hand in Hand zusammenarbeiten.
Die Branche zeigt Lösungen und Wege für internationale Herausforderungen auf
Auch in diesem Jahr zeigten die zentralen technologischen Themen im Rahmen der beiden Leitmessen das Potenzial der Halbleiterbranche. Wurde erneut klar, dass Mikroelektronik keine Alleingänge erlaubt, die Produktion von Halbleiterprodukten nur grenzübergreifend und global funktioniert. Die Branche zeigte in diesem Zusammenhang erneut ihre Möglichkeiten, die Welt zum Besseren zu verändern. Und das in 6,5 von insgesamt 18 Münchner Messehallen. Mehr als ein Drittel aller Messebeteiligungen drehte sich damit um die Mikroelektronik oder deren Zulieferindustrie. Um eine Schlüsseltechnologie also, die Elektronik – von Unterhaltung bis Automotive – erst ermöglicht.
In Zeiten, in denen führende Staatenlenker:innen und Entscheider:innen noch immer den menschengemachten Klimawandel anzweifeln oder ignorieren, machte es zudem Mut, dass zumindest die Industrie sich weiterhin hohe Ziele in den Bereichen Nachhaltigkeit und Dekarbonisierung setzt, neue Möglichkeiten auslotet, Ressourcen zu sparen, CO² -Abdrücke zu reduzieren und neue Technologien zu entwickeln, die nicht nur die eigene Branche „grüner“ und umweltfreundlicher macht. Es ging zudem um die spannenden neuen Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz, um Chiplets und Advanced Packaging. Bereiche also, die die Bedeutung, Errungenschaften und Fortschritte einer Schlüsselbranche aufzeigen, ohne die heutzutage kein Wirtschafts-, Industrie- oder Gesellschaftsbereich mehr vorankommen kann.
Die Geopolitik wird zunehmend für Europa zur Gefahr
Im selben Atemzug ging es dann aber auch wieder um die aktuellen geopolitischen Spannungen, denen die Branche ausgesetzt ist. Um die hierfür notwendige Resilienz. Um Lieferketten, in denen es knirscht oder die sogar zu zerreißen drohen. Um den „Krieg“, der im Bereich der Fachkräfte und Talente geführt wird. Ja, Sie lesen richtig. Krieg war der gewählte Begriff, der auch beim Thema Förderung der Mikroelektronik mitschwang und hier dem weltweit an Fahrt aufnehmenden Chips Act – die von Europa über Asien bis hin zu Nordamerika mit Milliarden die Industrie zu Investitionen locken – ein anderes, unschönes Gesicht gibt.
Da half es dann auch wenig, dass ein Vertreter der Europäischen Union die bislang getätigten Investments in Europa – von Important Projects of Common European Interest (IPCEI) bis EU Chips Act – auf 85 Mrd. Euro beziffert und feierte. Sicher eine positive Nachrichte für eine stetig an Bedeutung gewinnende Branche, die aber ohne eine klare europäische Halbleiterstrategie nicht die gewünschten nachhaltigen Erfolge erreichen kann. Erst recht, wenn jene Investitionen offensichtlich nicht erfolgen, um europäische Stärken auszubauen und Schwächen abzumildern, sondern nur um schwer nachzuvollziehende Weltmarktanteile zu erreichen und andere Nationen in die Schranken zu weisen.
Europas Halbleiter-Marktanteil liegt nur noch bei 7 bis 8 Prozent
Von 10 auf 20 Prozent will die EU weiterhin den Weltmarktanteil der eigenen kontinentalen Halbleiterproduktion führen, wie erneut vom anwesenden EU-Vertreter Gustav Kalbe verkündet wurde. Blöd nur, wenn kurz darauf und im Rahmen eines Panels zur „Geopolitik der Halbleiterbranche“ von einer Mikroelektronikexpertin und einem Analysten ganz andere Zahlen ins Feld geführt werden. Denn Europa liegt aktuell keineswegs bei 10 Prozent Marktanteil. Wohl eher zwischen 7 und 8 Prozent. Bis Ende des Jahrzehnts könnte diese Zahl maximal auf 11 Prozent steigen. Die von der EU kommunizierten 20 Prozent hingegen scheinen vollkommen unrealistisch und das nicht erst seit der Ankündigung von Intel und ZF/Wolfspeed die eigenen EU Chips Act Projekte auf europäischem Boden um Jahre zu verschieben.
Eindringlich klang schließlich auch der Appell von Frédérique Le Grevés, Präsidentin von ST Microelectronics Frankreich, die im Rahmen des selben Panels darum bat, die Industrie intensiver in Förderprogramme und -bemühungen wie den EU Chips Act einzubinden. Sich eben nicht nur auf unspezifische Zielwerte zu fokussieren, sondern gemeinsam auf greifbare und sinnhafte Meilensteine und Roadmaps zu verständigen. Schließlich gilt es in erster Linie, die in Europa beheimateten Industrien und Wirtschaftsbereiche mit den hier hergestellten Halbleiterprodukten zu unterstützen und voranzubringen. Auch die anwesende Vertreterin des U.S. Department of State und Verantwortliche für den US Chips Act, Virginia Kent, lauschte hier durchaus interessiert, wohlwissend, dass die US-amerikanischen Halbleiterbemühungen schon jetzt weitaus mehr Durchschlagskraft entwickeln, als es der EU Chips Act bislang vermochte.
Politische Vertreter:innen Chinas suchte man in Panels und Foren übrigens vergebens. Für mich erstaunlich, bedenkt man, dass China aktuell der am schnellsten wachsenden Halbleitermarkt und gleichzeitig Halbleiterproduktionsstandort der Welt ist.
China stellt Europa und die USA in den Schatten – 108 neue Fabs weltweit reichen nicht aus
45 neue Halbleiterfabriken (Fabs) wurden seit 2023 hier bereits gebaut oder sollen bis 2027 noch entstehen. 12 neue Fabs in Europa und 18 neue Fabs in den USA im gleichen Zeitraum wirken dagegen fast unambitioniert. In ganz Asien entstehen bis 2030 (Stand November 2024) insgesamt 78 neue Fabs – davon u.a. 11 in Japan und 11 in Taiwan. Laut SEMI-Analysen müssten – zusätzlich zu den 108 bereits gebauten oder noch in Entstehung befindlichen Fabs weltweit – bis 2030 zusätzlich weitere 50 Fabs global entstehen, um den an Fahrt aufnehmenden Boom der Künstlichen Intelligenz (KI) gerecht zu werden. Wie das bei sich zunehmend abschottenden Märkten und Systemen gelingen soll, steht in den Sternen.
Halbleitermarkt wächst bis 2030 auf eine Billionen Dollar
Bis 2030 soll der Halbleitermarkt weltweit dennoch mehr als eine Billionen Dollar erwirtschaften. Komplexe Themenfelder vom Internet der Dinge über Künstliche Intelligenz bis zur heranrollenden Quanten-Welle müssen hierfür gemeinsam angegangen werden. Allein wie, ist zunehmend die Frage. Auch wenn Europa und die USA aktuell noch eng zusammenarbeiten, ist zu befürchten, dass sich dies in den kommenden Monaten und Jahren unter der Führung eines Donald Trump ändern dürfte. Wie mit China bereits der Fall, wird dann wohl eher über- als miteinander gesprochen. So tauchte China in den vergangenen Messetagen in den meisten gezeigten Präsentationen erst gar nicht auf. Von Unabhängigkeit, Resilienz und eigener Verantwortung war jedoch immer wieder die Rede. Als wäre auch nur eine Nation weltweit in der Lage, die Herausforderungen in der Halbleiterindustrie allein zu stemmen.
Das weitere Wachstum der Industrie – und das ist die gute Nachricht – wird all dies sicher nicht behindern. Nahezu jede Nation investiert inzwischen im großen Stil in seine Halbleiterkompetenzen. Die einen mit Plan und auf die eigenen Bedürfnisse ausgerichtet. Die anderen etwas planloser, deshalb jedoch nicht weniger ambitioniert. Die Charts mit enormen Wachstumskurven sind daher weiterhin nicht in Gefahr. Die internationale Kooperation, gemeinsame Ziele, Werte und Erfolge vielleicht aber schon. Ob die aktuellen Herausforderungen so im internationalen Konsens zu lösen sind, bleibt abzuwarten. Nicht die Halbleiterindustrie ist – wie zuletzt während Corona – der Hemmschuh. Vielmehr nimmt die Politik zunehmend Einfluss auf eine Branche, die mehr als jeder andere Wirtschaftsbereich die internationale Zusammenarbeit wie die Luft zum Atmen braucht.
Halbleiterbranche stellt sich gegen isolationistische Bestrebungen und bleibt im Aufwind
Es war in den vergangenen Messetagen daher durchweg positiv zu bewerten, dass die Vertreter:innen der Branche sich gegen diese zunehmend Trend des „Wir gegen Die“ positionieren. Trotz räumlich isolierter und teilweise durchweg chinesisch gebrandeter Messehallen. Trotz politischer Querschüsse und isolationistischer Bemühungen. Trotz Kriegsrhetorik und Systemkämpfen. Die Halbleiterbranche ist und bleibt im Aufwind. Es liegt nun an den Staatenlenker:innen die internationale Zusammenarbeit wieder stärker in den Fokus zu rücken, die Halbleiterindustrie eben nicht für die eigenen Zwecke zu missbrauchen.
Denn abseits der durch die internationale Politik hereingetragenen Misstöne, waren und sind die SEMICON Europa sowie die electronica herausragende Beispiele, wie internationale Zusammenarbeiten und Geschäfte funktionieren können. Gerade am Stand des Silicon Saxony mit seinen über 50 ausstellenden Unternehmen und Institutionen war und ist die Bedeutung der internationalen Kooperation deutlich zu erkennen. Menschen aus allen Nationen vernetzten sich hier, machten Geschäfte und stießen Zusammenarbeiten an. Die Hoffnung ist entsprechend groß, dass irgendwann auch die Politik erkennt, dass sich miteinander weitaus mehr erreichen lässt als gegeneinander. Denn wer noch immer denkt, die Herausforderungen unserer Zeit allein lösen zu können oder sich darum nicht kümmern zu müssen, hat in den vergangenen Jahrzehnten nichts verstanden.
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Weiterführende Links
👉 Was bringt der Draghi-Report? – Europas Pläne sich mit China und den USA zu messen
👉 Der Milliardenverzicht und seine Gründe – Intel und ZF/Wolfspeed „verschieben“ EU Chips Act Projekte
👉 EU Chips Act: Gut, aber gut genug?
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Redakteur: Robert Krauße
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Bild: Canva