Herr Professor Kuhn, wozu braucht es smarte Systeme? Wo liegt ihr genereller, größter Nutzen?
Prof. Dr. Harald Kuhn: In den 70er Jahren waren smarte Systeme vor allem eine Spielwiese für ausgewiesene Fachexperten, während sie heutzutage allgegenwärtig und selbstverständlich im Einsatz sind. Das Smartphone ist hierfür ein bekanntes Beispiel. Jedoch geht der Mehrwert smarter Systeme weit über deren persönliche Nutzung hinaus. So sind sie im industriellen Bereich bspw. dazu in der Lage, Energie einzusparen, indem sie lokale Ressourcen und Prozesse regeln und steuern. Im Bereich der Gesundheitsversorgung können smarte Systeme uns dabei helfen, gesundheitliche Risiken standardisierter und spezifischer zu erkennen, selten vorkommende Krankheiten mit diffusen Symptomen besser zu diagnostizieren und diese schließlich auch zu behandeln. In der Landwirtschaft ermöglichen es smarte Systeme, das Tierwohl zu erfassen, landwirtschaftliche Kenngrößen wie z. B. die Bodenfeuchte zu ermitteln, Verunreinigungen in Gewässern zu detektieren und steuernde Gegenmaßnahmen einzuleiten. Somit bieten smarte Systeme einen breiten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Mehrwert.
Seit wann gehören smarte Systeme zu den „Schlüsseltechnologien“ und warum ist das so?
Prof. Dr. Harald Kuhn: Die Geschichte smarter Systeme ist eng mit der Entwicklung der Chiptechnologie verbunden. Denn das intelligente Herzstück dieser Systeme ist stets ein Prozessor, der Daten verarbeitet und Entscheidungen trifft. Bereits seit den 70er Jahren existiert die Idee der Heimautomation, heute als „Smart Home“ bekannt. Spätestens seit den 90er Jahren jedoch sind smarte Systeme nicht mehr aus unserem Leben wegzudenken und zur Schlüsseltechnologie geworden. Ob in Gebäuden, in der Industrie oder in Verkehrsmitteln. Mittlerweile finden sie sich in jedem Lebensbereich wieder. Ich erinnere nur an die Cochlea-Implantate bei Schwerhörigkeit, an die Sicherheitssysteme im Auto wie Airbag und ESP als smarte Systeme der ersten Generation.
Europa will bis 2050 klimaneutral werden. Wie trägt die Smartifizierung dazu bei, den ökologischen Zielen Rechnung zu tragen? Erschwert der erhöhte Grad an technologischer Komplexität nicht die Ansprüche an Systeme bzgl. Ressourceneffizienz und Recycling?
Prof. Dr. Harald Kuhn: Sollte die Zahl der smarten Systeme weiterhin so stark zunehmen wie bisher, wird ihr Anteil am weltweiten Energieverbrauch im Jahr 2050 die Hälfte ausmachen. Zugleich sparen smarte Systeme aber auch enorm viel Energie ein. Ein Beispiel dafür ist das Smart Home, bei dem durch intelligentes Lüften ein Vielfaches dessen an Energie eingespart werden kann, was das smarte System selbst verbraucht. In ähnlicher Weise kann im Bereich der „intelligenten Fertigung“ durch intelligentes Management von Fertigungsprozessen und vorausschauende Wartung ein Vielfaches des eigenen Ressourcenverbrauchs eingespart werden. Schließlich kann auch die Fertigung der smarten Systeme selbst energieeffizienter und umweltschonender erfolgen. Das schließt auch unsere eigenen Fertigungs- und Entwicklungsprozesse am Fraunhofer ENAS und am Zentrum für Mikrotechnologien (ZfM) ein. An dieser Stelle möchte ich explizit darauf hinweisen, dass ohne eine interdisziplinäre, Organisationsstrukturen und Cluster übergreifende Kooperation das Ziel nicht erreicht werden kann. So bündeln wir z.B. als Fraunhofer-Institute des Mikroelektronikverbundes gemeinsam mit Leibnizinstituten unsere Aktivitäten in der Forschungsfabrik Mikroelektronik (FMD) und Europaweit mit Instituten wie CEA-LETI, IMEC, VTT um nur einige zu nennen, mit dem Ziel die Vorreiterrolle Europas im Bereich smarter System zu sichern und weiter auszubauen. Darüber hinaus wird der Einsatz Künstlicher Intelligenz (KI) in smarten Systemen den Energieverbrauch perspektivisch noch einmal massiv zu senken. Bei einem einzelnen Kleinverbraucher sind Energieeinsparungen von über 50 % möglich. Insgesamt werden smarte Systeme daher eine gewichtige Rolle bei der Erreichung von Klimaneutralität spielen.
Welche Innovationen oder Produkte werden in naher oder ferner Zukunft am wahrscheinlichsten den Weg in die Industrie finden?
Prof. Dr. Harald Kuhn: Aktuell erleben wir eine hohe Nachfrage im Consumer-Bereich, insbesondere hinsichtlich der Mobilität und des Smart Home. In der Zukunft werden wir auch eine zunehmende Vernetzung von Mensch und Maschine im Bereich der Industrie 4.0 erleben, wo kooperative Robotersysteme Hand in Hand mit dem Menschen in der Fertigung arbeiten werden. Dabei werden smarte Komponenten eine entscheidende Rolle spielen, da sie in der Robotik zur Erschaffung einer Art verteilter Nervensysteme dienen. Zudem werden smarte Systeme perspektivisch auch im Bereich des intelligenten Tests, der multidimensionalen Datenerfassung und der intelligenten Fertigungs- oder Liniensteuerung immer größere Bedeutung gewinnen. Aber auch im Bereich der intelligenten Medizin wird sich einiges tun. Schon heute sind ja bspw. Wearables, also intelligent miteinander vernetzte Computersysteme, die direkt am Körper getragen werden und diverse Körperfunktionen messen, fast so weit verbreitet, wie Smartphones. In allen der genannten Themenfelder kooperieren wir mit Universitäten, anderen Forschungseinrichtungen – insbesondere im Rahmen der FMD, StartUps, KMUs und natürlich auch der Industrie. Denn in all diesen Bereichen sind die Beteiligten auf den Transfer von Wissen und Know-how angewiesen.
Welchen Beitrag liefern Grundlagen- und angewandte Forschung hierbei heute und in Zukunft?
Prof. Dr. Harald Kuhn: Smarte Systeme sind ohne Grundlagen- und Anwendungsforschung nicht denkbar. In dieser Weise sind beispielsweise die Institute der Forschungsfabrik Mikroelektronik, aber auch unser Zentrum für Mikrotechnologien (ZfM) und das Fraunhofer ENAS eng miteinander verzahnt. Exzellenzinitiativen und Projekte widmen sich speziellen Fragestellungen. In der Grundlagenforschung werden Fragen untersucht wie „Was kann smart erfasst werden? Wie funktioniert das Messprinzip in der Sensorik? Wie kann Energie gewonnen werden? Wie kann das Gerät kommunizieren? Welche Materialien sind notwendig, um das Prinzip umzusetzen? Können kritische Rohmaterialien ersetzt werden? Wie können smarte Systeme recycelt werden?“. Die Anwendungsforschung beantwortet dann Fragen wie „Wie kann ich mein Prinzip so umsetzen, dass ein sicheres Produkt entsteht? Welche Standards und Spezifikationen müssen erfüllt werden?“. Diese Fragen sind grundsätzlich zeitlos, werden aber immer in den aktuellen Kontext eingebettet. Derzeit steht die Beantwortung von Fragen im Vordergrund, die sich darauf fokussieren, wie wir in Europa und Deutschland die nächste Generation konkurrenzfähiger smarter Systeme entwickeln und fertigen können. Wie wir sie intelligenter, funktionssicherer, datenschutzkonformer, manipulations- und abhörsicherer machen können. Wie wir sie ressourcenschonender herstellen können oder kritische Rohmaterialien ersetzen. Zuletzt aber auch, wie wir smarte Systeme für das Wohl der Gesellschaft einsetzen können, so dass sie ihre Funktion effektiv entfalten und dabei zugleich breite Akzeptanz erfahren.
Wie sehen Sie den Stand der deutschen Forschung im Weltmaßstab?
Prof. Dr. Harald Kuhn: Die Geschichte smarter Systeme begann in Europa im Bereich Heimautomation, wobei die entstehenden Systeme und Protokolle auch in den USA und in Fernost Absatz fanden. Die technologische Grundlage bildeten hochintegrierte Schaltkreise sowie Sensoren und Aktoren, die in Europa und den USA hergestellt wurden. In den Anfängen spielten dabei deutsche Firmen wie Siemens eine Schlüsselrolle, unter anderem bei der Entwicklung der ersten Mobiltelefone. Im Mobiltelefonbereich findet mittlerweile nicht nur die Produktion, sondern auch die Innovation vor allem in Asien statt. Die asiatischen Länder haben im internationalen Wettbewerb nicht nur bei Mobiltelefonen stark aufgeholt und sind deutlich forschungsstärker geworden, als noch vor einem Jahrzehnt.
Europa und insbesondere Deutschland sollten zukünftig weiterhin eine wichtige Rolle bei der Innovation smarter Systeme spielen, da diese von enormer gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Relevanz sind. Hierfür ist es wichtig, existierende Stärken z.B in der Sensorik und Aktorik aus- und Schwachstellen abzubauen.
Im Hinblick auf künftige Systeme baut Europa massiv Kapazitäten in den Bereichen Quantensensorik, -kommunikation und Quantencomputing sowie in der Fertigung und Forschung zur Mikroelektronik insbesondere mit dem Fokus More than Moore in Richtung Multifunktionalitat auf. Themen wie optimiertes Design, hardwarebasierte heterogene Integration und Test- und Zuverlässigkeitsbewertung integrierter Sensorik und Elektronik sind weitere Bereiche, in denen Europa eine Vorreiterrolle sichern bzw. einnehmen sollte. Neue Cluster in der Forschung wie z.B. die FMD, aber auch weitere, stark wachsende europäische Ballungsgebiete (Sachsen, Süddeutschland, Niederlande, Belgien, der Alpenraum, u.v.a.m.), European Digital Innovation Hubs sowie zunehmende Kooperationen in der Branche sind eine geeignete europäische Antwort auf den internationalen Wettbewerb.
Im Bereich der KI hinkt Europa und auch Deutschland den USA und China hinterher.
Hier müssen wir uns auf unsere Stärken konzentrieren, um im internationalen Wettbewerb besser bestehen zu können. Nachhaltigkeit, d.h. Datenschutz, Zuverlässigkeit und Nachvollziehbarkeit im Bereich KI könnten solche Stärken sein, die letztendlich auch für eine dauerhafte Akzeptanz in der Bevölkerung sorgen.
Und zum Schluss ganz persönlich gefragt: Wie „smart“ ist ihr Alltag und auf welches smarte System könnten Sie keinesfalls verzichten?
Prof. Dr. Harald Kuhn: Smarte Systeme sind auch in meinem Alltag omnipräsent und haben Einzug in viele meiner alltäglichen Abläufe erhalten. Sei es durch das Smartphone, das Auto oder aber beim Sport. Darüber hinaus bin ich aktuell damit beschäftigt, mein Wohnhaus mit smarten Systemen auszustatten. Besonders spannend finde ich dabei die vielfältigen Möglichkeiten im Bereich der Sicherheit. So lässt sich das eigene Haus mit intelligenten Überwachungskameras, Alarmanlagen und Türschlössern ausstatten, die miteinander agieren und im Bedarfsfall eine schnelle Reaktion ermöglichen. Ebenso kann das Eigenheim mit smarten Rauchmeldern und CO2-Detektoren bestückt werden, die mit anderen Geräten kommunizieren und im Notfall Alarm schlagen. Im Smart Home-Bereich eröffnen sich somit viele Optionen und mir macht es Freude, die für mich praktikabelste und intelligenteste Lösung zu finden.
Vielen Dank für das Gespräch, Professor Kuhn.
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Unser Gesprächspartner
Prof. Dr. Harald Kuhn
Institutsleiter, Fraunhofer-Institut für Elektronische Nanosysteme ENAS in Chemnitz
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Fraunhofer ENAS
Die besondere Stärke des Fraunhofer-Instituts für Elektronische Nanosysteme ENAS liegt in der Entwicklung von Smart Systems – sogenannten intelligenten Systemen für verschiedenartige Anwendungen. Die Systeme verbinden Elektronikkomponenten, Mikro- und Nanosensoren und -aktoren mit Schnittstellen zur Kommunikation. Fraunhofer ENAS entwickelt Einzelkomponenten, die Technologien für deren Fertigung aber auch Systemkonzepte und Systemintegrationstechnologien und überführt sie in die praktische Nutzung. Fraunhofer ENAS begleitet Kundenprojekte von der Idee über den Entwurf, die Technologieentwicklung oder Umsetzung anhand bestehender Technologien bis hin zum getesteten Prototyp.
Fraunhofer-Institut für Elektronische Nanosysteme ENAS
Technologie-Campus 3
09126 Chemnitz
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