Deutschland ist Planungsriese und gleichzeitig Umsetzungszwerg, das zeigt abermals die neueste Auswertung des Digitalverbandes Bitkom – der „Monitor Digitalpolitik„. Insgesamt 334 digitalpolitische Vorhaben schrieb sich die Regierung um Bundeskanzler Olaf Scholz bei Amtsantritt in die eigene Agenda. Nach gut der Hälfte dieser Legislaturperiode haben es davon magere 38 Projekte bis zu ihrem Abschluss geschafft, 219 befinden sich „in Umsetzung“, während 77 Vorhaben auch weiterhin darauf warten ihren ersten Schritt zu tun. Eine ernüchternde Bilanz, nimmt man die markigen Auftritte von Bundeskanzler Scholz und seinen Minister:innen als Maßstab. Zumindest das von Olaf Scholz gern und oft propagierte „Deutschland-Tempo“ bekommt zunehmend einen negativen Anstrich. Was anfangs eindrucksvoll nach Schnellzug klang, stellt sich zunehmend als Bummelbahn heraus. Nicht nur, dass sie langsam ist. Zunehmend stellt sich die Frage, ob sie in der vorgegebenen Zeit ihr Ziel überhaupt erreicht.
Corona machte die Verwaltung schneller, jedoch nur temporär
Dabei steckt gerade in der Digitalisierung die große Chance, viele Dinge nicht nur für die deutschen Bürgerinnen und Bürger leichter zu machen – von Bildung über Gesundheit bis zu Behördengängen. Speziell die deutsche Wirtschaft und hier vor allem die vielen kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) würden von einem Bürokratieabbau und einer halbwegs ambitionierten Digitalisierung deutlich profitieren. Nicht umsonst hatte sich die „Ampel“ im Koalitionsvertrag vorgenommen, gerade der Wirtschaft „mehr Zeit für ihre eigentlichen Aufgaben zu schaffen“. Und ja, zwischenzeitlich wirkte es tatsächlich so, als hätte die Politik den Ruf der Stunde verstanden. Doch was von vielen in den vergangenen Jahren als deutlicher Fortschritt missverstanden wurde, war nicht mehr als einer der wenigen positiven „Corona-Effekte“. Genehmigungs- und Planungsverfahren wurden zügig durchgewunken. Anträge und Formulare konnten vielerorts digital eingereicht werden. Mit dem „offiziellen Ende“ der Corona-Pandemie schliefen diese Entwicklungen jedoch genauso schnell wieder ein, wie sie begonnen hatten. Inzwischen ist vieles beim Alten.
Immer mehr Gutachten und Genehmigungen erhöhen die Bürokratie
Es darf wieder fleißig ausgedruckt, händisch unterschrieben und postalisch eingereicht werden, als gäbe es kein Gestern mehr. Während die Wirtschaft von DS-GVO bis Hinweisgeberschutzgesetz eine neue Vorschrift nach der nächsten zu bewältigen versucht, beschränken sich Deutschland und Europa darauf, die einst riesigen digitalen Ansprüche entweder zu verschlafen oder einfach weiterzureichen. Bereits Ende 2022 monierte Industriepräsident Siegfried Russwurm: „Langwierige Verfahren kosten die Unternehmen Geld und Wettbewerbsfähigkeit„. 65 Prozent der befragten Unternehmen meinten schon damals, die Bürokratie sei in den vergangenen sieben Jahren größer geworden und forderten die zügige Digitalisierung der Verwaltung. Das Ergebnis, das Bitkom in seinem „Monitor Digitalpolitik“ nun veröffentlichte, wirft die Frage auf: Hat Deutschland seine Wirtschaft nicht verstanden oder will Deutschland sie am Ende nicht verstehen? Nur ein Beispiel: Laut Bundesverband der Deutschen Industrie brauchte es für ein Genehmigungsverfahren in der Industrie vor zehn Jahren noch durchschnittlich zwei Gutachten. Heute sind es durchschnittlich sieben.
Deutschland wird von immer mehr europäischen Ländern überholt
Dass zunehmend Europas Süden als positives Beispiel genannt wird, wie sich staatliche Großprojekte – z.B. die 2018 eingestürzte und in 15 Monaten wieder aufgebaute Morandi-Brücke in Genua – abwickeln lassen, sollte deutschen Behördenstuben zu denken geben. Erst recht, da gleichzeitig Europas Norden inzwischen nicht nur digital so weit enteilt ist, dass sich Vergleiche scheinbar nicht einmal mehr anbieten. Expert:innen, wie Prof. Sabine Kuhlmann, Verwaltungsexpertin Universität Potsdam, stellen aktuell einhellig fest, dass sich Mitarbeitende in der deutschen Verwaltung durch mehr Gutachten und Genehmigung zunehmend juristisch absichern, um im schlimmsten Fall nicht persönlich zur Verantwortung gezogen zu werden. Eine Unsicherheit, die erhebliche Folgen für das gesamte Deutschland mit sich bringt. Darüber hinaus fehlt es vor allem an den Grundlagen der Digitalisierung. Zwar legt Deutschland beim Glasfaserausbau an Tempo zu, liegt im OECD-Vergleich (Durchschnitt: 35,9 Prozent) aber weiterhin mit einem Anteil von 8,1 Prozent am Tabellenende. Zum Vergleich: In Südkorea werden bereits mehr als 87 Prozent aller Breitbandanschlüsse per Glasfaser realisiert, in Spanien 81 Prozent. „Deutschland prokrastiniert“, scheint daher inzwischen weitaus plausibler als „Deutschland macht Tempo“. Ein Umstand, der Sorgen bereitet.
In einer Leistungsgesellschaft muss auch die Politik mehr leisten
Denn Leistung sollte nicht nur in der Schule, in Ausbildung und Studium oder der freien Wirtschaft eine valide Forderung sein. Auch die Politik muss sich in die Leistungsgesellschaft einfügen, die sie immer wieder fordert und voranzutreiben gedenkt. Mittlerweile hechelt Deutschland in Europa dem Norden hinterher und wird vom Westen, Osten und zunehmend auch dem Süden überholt. Ja Herr Scholz, Deutschland ist in seinem eigenen Tempo unterwegs, dem vielzitierten „Deutschland-Tempo“. Und das ist problematisch. Es ist an der Zeit, endlich Verantwortung zu übernehmen, digital voranzugehen und wichtige Entscheidungen im Sinne der deutschen Wirtschaft zu treffen – in Verwaltung und Politik.
TIPP: Sie haben vom Hinweisgeberschutzgesetz noch nichts gehört? Ab 1. Januar 2024 betrifft die Pflicht, Mitarbeitenden einen sicheren und vertraulichen Meldekanal zur Abgabe von Hinweisen auf Gesetzesverstöße anzubieten auch Unternehmen ab 50 Mitarbeitenden. Falls Sie hierzu weitere Informationen wünschen oder Unterstützung in der Umsetzung suchen, melden Sie sich gern direkt bei Frank Bösenberg (frank.boesenberg@silicon-saxony.de).
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