
Die vergangene Woche auf der SEMICON Europa hat eindrücklich gezeigt, dass sich die deutsche und europäische Halbleiterbranche derzeit in einem Spannungsfeld zwischen Aufbruch und Abhängigkeit bewegt. Das europäische Chip-Gesetz war zweifellos ein wichtiger erster Schritt. Doch gleichzeitig machen Industrieverbände und Unternehmen klar, dass wir ein „Chips Act 2.0“ brauchen – mit weniger Bürokratie, beschleunigten Genehmigungsverfahren, mehr finanziellen Mitteln für Pilotlinien sowie einer stärkeren Verankerung von Design- und Advanced-Packaging-Kompetenzen in Europa. Denn faktisch findet ein Großteil der Wertschöpfung, insbesondere bei Hochleistungschips für KI, Cloud und Rechenzentren, noch immer außerhalb Europas statt. Damit bleibt ein wesentlicher Teil der strategischen Steuerungsmacht außerhalb der EU.
Parallel dazu hat der Gipfel zur digitalen Souveränität in Berlin diese strukturellen Abhängigkeiten thematisiert. Die digitale Zeitenwende, die bereits im Jahr 2022 mit dem Chips Act eingeläutet wurde – „There is no digital without chips“ – droht aktuell in Diskussionen und Maßnahmen aus dem Fokus zu geraten. Bundeskanzler Merz und Präsident Macron haben beim Gipfel zwar den politischen Schulterschluss Europas demonstriert und die Notwendigkeit betont, entlang der gesamten Wertschöpfungskette handlungsfähig zu werden. Doch: Vertretende der Chipindustrie waren bei diesen Debatten bemerkenswert selten zugegen.
Digitalminister Karsten Wildberger brachte es auf den Punkt, als er Politik und Industrie aufforderte, von der passiven Zuschauerrolle in die aktive Gestaltung zu wechseln – „Hände auf die Tastatur!“ Für die deutsche Industrie heißt das: Investitionen in KI- und Cloud-Rechenzentren müssen schneller umgesetzt und eng mit europäischen Standards für digitale Identität, offene Infrastrukturen und Sicherheitsanforderungen verzahnt werden. Hier zeigt sich das Beispiel Lidl und Schwarz als positives Leuchtturmprojekt – die elf Milliarden Euro schwere Investition in das Rechenzentrum in Lübbenau ist ein starkes Signal. Doch spätestens bei der Hardware stößt die Souveränität an Grenzen, denn aktuell fehlt auf EU-Ebene nicht nur die Fertigungskapazität, sondern auch ein konkurrenzfähiges Design für die benötigten Chips.
Die Politik ist jetzt mehr denn je gefordert, bürokratische Hürden abzubauen, Fördermittel dauerhaft zu verstetigen und günstige Rahmenbedingungen zu schaffen, die europäischen Technologieansätzen zu internationaler Wettbewerbsfähigkeit verhelfen.
Unsere zentralen Empfehlungen für den Chips Act 2.0
Als Verein Silicon Saxony haben wir im Rahmen der aktuellen Konsultation zum EU Chips Act fünf zentrale Empfehlungen eingebracht, die aus unserer Sicht unverzichtbar für eine erfolgreiche Weiterentwicklung des Gesetzes sind:
- Eine engere Verzahnung zwischen Säule 1 (Forschung und Entwicklung) und Säule 2 (industrielle Fertigung) ist essenziell. Nur eine funktionierende industrielle Verwertung in Europa ermöglicht einen nachhaltigen Rückfluss der Investitionen in Forschung und Entwicklung.
- Die Gestaltung industrieller Projekte muss flexibler werden. Rahmenbedingungen ändern sich schnell, und die Politik muss agiler reagieren können, um Projekte nicht zu blockieren.
- Der Staat sollte als bedeutender Nachfrager von IT-Produkten, einschließlich Halbleitern für verschiedenste Anwendungen von kleineren Knoten bis KI-Chips, eine aktive Rolle einnehmen. Während China und die USA hier bereits Standardprozesse etablieren, muss die EU als Ganzes nachziehen – europäische Zusammenarbeit ist hierbei der Schlüssel zum Erfolg.
- Im Bereich Governance fordern wir mehr Transparenz, insbesondere bei Gremien wie dem European Semiconductor Board. Die Einbindung von industriellen Clustern in diese Strukturen ist für Akzeptanz und Wirksamkeit unerlässlich.
- Trotz aller Anstrengungen werden kurzfristig und mittelfristig kritische Abhängigkeiten bleiben. Deshalb ist eine strategische Abstimmung mit anderen Weltregionen notwendig, um Versorgungslücken – etwa bei Speicherchips oder Basismaterialien für die Halbleiterherstellung – potenziell zu schließen.
Die SEMICON Europa und der digitale Souveränitätsgipfel haben uns deutlich vor Augen geführt: Europa braucht jetzt eine industrielle Zeitenwende. Politische Bekundungen sind wichtig, doch entscheidend sind konkrete Maßnahmen, die Europas digitale Souveränität praktikabel und wirtschaftlich tragen. Dafür muss der „Chips Act 2.0“ nicht nur die Grundlagen schaffen, sondern auch Innovationskraft und Investitionssicherheit gewährleisten, um Abhängigkeiten von globalen Technologiegiganten abzumildern und neue Wertschöpfungshöhen zu erreichen.
Auf dem Weg dorthin sollten bereits bestehende Initiativen wie die geplanten AI Gigafactories stärker im Hinblick auf die Skalierung europäischer Akteure genutzt werden, wie zuletzt auch Spinncloud in einer Veranstaltung in Brüssel zurecht anmahnte.
Wenn Politik, Wirtschaft und Forschung jetzt gemeinsam den Schwung nutzen, kann die europäische und damit auch die deutsche Chipindustrie zum Motor für Europas souveräne digitale Zukunft werden und den Aufbruch vom Nachzügler zum Mitgestalter schaffen.
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Weiterführende Links
🎧 Rückblick SEMICON Europa 2025 (Podcast zum online hören)
👉 SpiNNcloud: SpiNNcloud: Europa verfügt bereits heute über die Technologie zum Bau von KI-Gigafabriken
👉 Tagesschau: Europa will eigenen digitalen Weg gehen
👉 Zeit: Die digitale Zeitenwende
👉 heise: Souveränitätsgipfel: Merz und Macron proben den Schulterschluss